Said Topalović: Selbstbestimmung als Ziel islamisch-religiöser Bildung

von Hamit Duran, Turgi, im Juni 2024

In der heutigen Zeit steht die Selbstbestimmung im Zentrum der religiösen Bildung. Junge Heranwachsende sollen in die Lage versetzt werden, Lösungen für Probleme und Herausforderungen im Alltag selbstständig und verantwortungsvoll zu erarbeiten. Dem Autor gelingt es in vorliegendem Werk aufzuzeigen, dass es dafür im Islam sowohl theologische als auch geschichtliche Grundlagen gibt.

Ausgangspunkt seiner Betrachtungen bildet die Geschichte Bosniens, das im Jahre 1878 nach dem Rückzug des osmanischen Reichs durch die österreichisch-ungarische Donaurepublik übernommen wurde. Das führte dazu, dass sich die Bosniaken über Nacht unter veränderten Lebensbedingungen wiederfanden, was für Verwirrung unter der Bevölkerung und zu einer vorübergehenden, intellektuellen Stille führte. Diese währte aber nicht lange, schon bald kam es zu intensiven Diskussionen, welche auf der Suche nach einer gangbaren Koexistenz mit dem Christentum zu einer «Neuinterpretation des Islam» führten.

Im ersten Kapitel beschreibt Topalovic ausführlich, wie sich in Bosnien zwei theologische Richtungen ausbildeten, jene der «Traditionalisten», welche an alteingesessenen Denkmustern festhielten und jene der «Reformisten», welche ihren Blick nach vorne richteten und den Islam als eine progressive Kraft verstanden. Er schliesst daraus, dass diese Erfahrungen und Transformationen wertvolle Impulse, Denkanstösse und Lösungsansätze für den deutschsprachigen Diskurs liefern können.

Basierend darauf sieht der Autor die aktuelle theologische und religionspädagogische Aufgabe auf folgenden drei Ebenen:

  • Aktualisierung des islamischen Denkens in der und für die Gegenwart
  • Kontextualisierung der islamischen Lehre und Praxis
  • Befreiung bestimmter theologischer Positionen, die durch lokalen historischen Ereignissen inspiriert wurden

Aktuelle Studien zeigen, dass sich eine gewisse (Pop-)Kultur des Normativen unter jungen Musliminnen und Muslimen entwickelt haben nach dem Motto: «ḥarām, ḥarām, tamām, tamām». Trotzdem streben viele nicht mehr das unreflektierte Nachahmen, sondern die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Religion an.

Hinzu kommt das Spannungsfeld von Moschee und Schule. Während der Moscheeunterricht auf traditionelle Formate religiöser Bildung zurückgreifen kann, steht der schulische Islamunterricht vor der Herausforderung, neue und innovative Lehr- und Lernkonzepte zu entwickeln, die einer modernen und zeitgemäßen schulischen Bildung entsprechen.

Im zweiten Kapitel unternimmt Topalovic eine Analyse der Ist-Situation, in der er den Islamunterricht an öffentlichen Schulen genauer untersucht. Dieser ist konzeptionell anders gestaltet als der Islamunterricht in Moscheen, findet in einem anderen Kontext statt und unterliegt durch seinen Rechtsstatus in einem Kooperationsmodell den im Bildungssystem für alle Schulfächer geltenden Bildungsstandards. Er leistet dabei einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Identifikation junger Musliminnen und Muslime mit der Religion des Islams im hiesigen Umfeld.

Topalovic verortet aber auch ein religionspädagogisches und didaktisches Defizit, wenn es um die zentrale Frage geht, was unter islamisch-religiöser Selbstbestimmung zu verstehen ist, und darüber hinaus, wie religiöse Lehr- und Lernprozesse zu gestalten sind, die Selbstbestimmung bei jungen Menschen fördern sollen. Basierend darauf formuliert er folgende Forschungsbereiche:

  • Selbstbestimmung aus islamischer Perspektive
  • Verständnis islamisch-religiöser Bildung im säkularen Umfeld
  • Förderung der Selbstbestimmung bei jungen Musliminnen und Muslimen

Aus den daraus gewonnen Erkenntnissen entwickelt er ein kompetenzorientiertes, didaktisches Modell für den islamischen Religionsunterricht. Er beschreibt auch sein methodisches Vorgehen, welches den Quran als Primärquelle nutzt. Dabei wählt er den sogenannten thematischen Zugang, bei dem alle Verse, welche die zu untersuchenden Begriffe enthalten, systematisch erforscht werden unter Berücksichtigung des quranischen Gesamtkontextes.

Die nächsten beiden Kapitel sind dem Begriff der Selbstbestimmung gewidmet. Dabei befasst Topalovic sich zunächst mit der Aufklärung, die sich im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen Glaube und Norm auf der einen und Freiheit und Vernunft auf der anderen Seite entwickelt hatte. Immanuel Kant definierte diese als den «Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.» Unmündigkeit war für ihn das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung oder Hilfe eines anderen zu bedienen. Topalovic sieht dabei Mündigkeit und Selbstbestimmung als sinngleiche Begriffe.

Natürlich betrachtet er diese beiden Begriffe auch im islamischen Kontext, so z.B. gemäss folgender Definition der religiösen Mündigkeit nach Mizrap Polat: «Die Menschen in die Lage zu versetzen, dass wenn sie glauben, zu wissen, warum sie glauben und eigenständig im Glauben zu handeln.» Das bedeutet aber nicht, dass sich der religiös-mündige Mensch von allen religiösen Normen und Erwartungen lossagen kann, denn auch der Glaube hat Erwartungen an ihn.

Topalovic leitet den Begriff der Selbstbestimmung auch aus dem Quran direkt ab, z.B. anhand der Schöpfungsgeschichte und der Entwicklung von Adam und Hawwa. Aber auch Verse, die sich vordergründig gegen die Selbstbestimmung richten (z.B. 9:5 und 9:25), analysiert er detailliert und kommt zum Schluss, dass die quranische Offenbarung an zahlreichen Stellen für universelle Prinzipien der Wahl- und Religionsfreiheit und damit auch für die menschliche Selbstbestimmung plädiert.

Das fünfte Kapitel ist nochmals der Geschichte Bosniens gewidmet, insbesondere der Institutionalisierung des Islams nach europäischem Beispiel und dem Reformdiskurs zwischen Modernismus und Traditionalismus. Die «Abnabelung» Bosniens vom osmanischen Reich kann dabei als Beispiel für die Musliminnen und Muslime in Europa dienen. So ist die Islamische Gemeinschaft Bosniens unabhängig und finanziert sich aus eigenen Mitteln wie Mitgliedsbeiträge, Zakat sowie Einnahmen aus eigenen Stiftungen (arab. Auqaaf). Sie hat auch ein demokratisch gewähltes Oberhaupt und bekennt sich zum säkularen, freiheitlich-demokratischen Staat. Die Geschichte der Bosniaken zeigt, dass sie ein ausgeprägtes Kontextbewusstsein haben, da sie mehrere Umbrüche ihres Kontextes durchgemacht haben. Ahmet Alibasic fasst dies treffend wie folgt zusammen: «The experience for Bosnian Muslims suggests that Western Muslims should relax a bit and not lose precious time in hesitation. Muslims can change without losing their faith. Unavoidable decisions must be taken.»

Das darauffolgende Kapitel widmet sich dem Spannungsfeld von religiöser Bildung in einem säkularen Staat. Viele Gelehrte sind der Ansicht, dass die islamische Geschichte im Grunde keinen rein religiösen Staat kenne. Im Gegenteil, die sog. Charta von Medina (arab. Sahifat-ul-Madina) lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und auf ein faires Verfahren; das Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit; das Recht auf Schutz des Lebens und das Recht auf Eigentum. Trotzdem haben spätere muslimische Generationen Staatsformen kreiert, die nur noch wenig mit dieser ursprünglichen Form zu tun haben.

Es werden auch heikle Themen, wie das Spannungsfeld von Religionsfreiheit versus Grundwerte behandelt und Lösungsansätze aufgezeigt. Dabei soll der schulische Religionsunterricht einen bestimmten Weltzugang bzw. eine gewisse Möglichkeit des Weltverstehens gewähren, die andere Fächer wenig oder gar nicht bieten können. Weiter sollen junge Heranwachsende bei der Entwicklung interreligiöser und pluralitätsfähiger Kompetenzen begleitet werden. Dazu zeigt der Autor zeitgemässe Bildungskonzepte auf, welche kritisch, kommunikativ und reflexiv sind. Zu den wichtigsten Aufgaben gehören dabei:

  • Lebensnahe Fragen in einem offenen und kritischen Diskurs reflektieren
  • Selbstbestimmte Urteilsfindung fördern
  • Gewissensbildung unterstützen
  • Spirituelle Erfahrungen reflektieren
  • Dialog und Pluralitätsfähigkeit fördern

Schliesslich entwickelt er im siebten Kapitel ein didaktisches Rahmenmodell für den islamischen Religionsunterricht. Die islamische Fachdidaktik steht dabei im Spannungsfeld zwischen Adaption, Modifikation und Innovation. In der Anfangsphase orientierte sich diese vor allem an den Theorien und Konzeptionen, die in der katholischen und evangelischen Religionsdidaktik entwickelt worden waren. Es gibt aber auch vermehrt Bestrebungen, pädagogische und didaktische Konzeptionen aus der eigenen islamischen Tradition zu entwickeln, wobei der Fokus auf die Lebenswelt der betroffenen Jugendlichen gelegt wird.

Das vom Autor entwickelte und erarbeitete didaktische Rahmenmodelle basiert auf der Wechselwirkung dreier Komponenten: Lernsubjekt, Lernobjekt und Lehr- und Lernbehandlung. An zentraler Stelle steht dabei die Reflexion der ganzheitlichen Botschaft des Islam im Lichte der Frage: Was charakterisiert in einer bestimmten Situation ein angemessenes religiöses Handeln bzw. Verhalten?

Die konkrete Unterrichtsgestaltung besteht dann aus sechs Phasen, die Topalovic ausführlich vorstellt, sowohl in Worten als auch mittels einer grafischen Darstellung. Konkrete Beispiele für Unterrichtseinheiten in verschiedene Schulstufen runden dieses Kapitel ab.

Im letzten Kapitel findet sich eine summarische Zusammenfassung sowie ein Ausblick und weitere Perspektiven. Wer einen schnellen Überblick über die Arbeit bekommen möchte, liest am besten dieses Schlusskapitel.

Alles in allem schliesst dieses Werk eine bekannte Forschungslücke innerhalb der Islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum und liefert wertvolle religionspädagogische und didaktische Grundlagen für eine zeitgemäße islamisch-religiöse Bildung im europäischen Kontext.

 

Bibliografie

Said Topalović: Selbstbestimmung als Ziel islamisch-religiöser Bildung, 2024, Internationale Hochschulschriften, Band 709, 224 Seiten, broschiert, 34,90 €, ISBN 978-3-8309-4858-2